Mittwoch, der 27. Mai 2020

Kleine Online-Etikette, oder: Wo bin ich eigentlich, wenn ich im virtuellen Seminarraum bin?

Illustration: ©Rosali Karré

Wie verhält man sich korrekt im Onlineunterricht? Wo bin ich eigentlich, wenn ich im virtuellen Seminarraum bin? Was ist okay, was geht gar nicht, worüber lässt sich streiten? Eine Antwort darauf ist nicht gesetzlich festgelegt. Aber jede beteiligte Person kann selber darauf kommen, wenn sie sich überlegt: Wo bin ich eigentlich, während ich mich in einer Telekonferenz befinde? Eine kleine Online-Etikette.
In den vergangenen Wochen haben wir alle miteinander viel über e-learning und online-classrooms gelernt, uns mit Webinaren und Telkos, Chatrooms und digitaler Lehre auseinandergesetzt. Eines hat immer wieder für Unsicherheit gesorgt, obwohl es weder mit neu formatierten Inhalten noch mit ungewohnter Technik zu tun hat, nämlich: Welches Verhalten ist angemessen im Online-Seminar? Diese Unsicherheit betrifft übrigens alle Beteiligten, Dozent*innen genauso wie Studierende, Referent*innen wie Diskutierende.

Zu Hause und doch im öffentlichen Raum

Anders als im Hochschulgebäude aus Stein und Glas gibt es hier keine klare Hausordnung. Weil sich mein Körper während der Onlinelehre ja bei mir zu Hause befindet, neige ich dazu, mir all das zu erlauben, was ich mir sonst zu Hause auch erlaube. Aber gleichzeitig bin ich in direktem Kontakt mit einer Reihe anderer Menschen. Vor allem, wenn am Computer die Kamerafunktion aktiviert ist, besteht diese kommunikative Verbindung in beide Richtungen: Ich kann die Anderen hören und sehen – und diese hören und sehen wiederum mich.
Das bedeutet: Ich bin zu Hause. Ich bin gleichzeitig aber auch nicht zu Hause, nämlich in einem öffentlichen Raum (oder zumindest doch halböffentlichen). Daraus lässt sich wiederum ableiten: Verhaltet Euch so, wie Ihr Euch auch in einem öffentlichen Raum verhalten würdet. Zieht Euch solche Kleidung an, schminkt und frisiert Euch so, nehmt eine Körperhaltung an, wie Ihr es auch im öffentlichen Raum oder für den Seminarraum und Hörsaal für angemessen halten würdet.

Nonverbale Kommunikation

Auf dem Sofa oder im Bett herumliegen, während Euch jemand wichtige Dinge zu vermitteln versucht, ist nicht in Ordnung (finde ich). Genauso, wie es ziemlich unhöflich ist, zu gähnen, die Augen zu schließen, oder sich offensichtlich mit anderen Dingen zu beschäftigen, die nichts mit der Sache zu tun haben. Das gilt in der Präsenz ja auch – und zwar, weil man mit einem solchen Verhalten seinem Gegenüber etwas zu verstehen gibt: Was Du zu sagen hast, interessiert mich nicht. Es kann ja sein, dass man tatsächlich aufmerksam zuhört, während man wie schlafend wirkt. Aber die Botschaft, die sich über das Medium vermittelt, ist eben eine ganz andere. Wenn Ihr bedenkt, wie Eure Haltung, Eure Körpersprache, Eure nonverbale Kommunikation bei allen anderen Teilnehmer*innen ankommt, lässt sich meistens ziemlich klar entscheiden, was okay ist.
Essen? Nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt (man sollte sich in jedem Fall bemühen, die Kalorien möglichst dezent einzuführen. Im Weitwinkel der Kamera kann der Blick in das Innere des Mundes eine wirklich verstörende Wirkung entfalten). Rauchen? Für mich persönlich kein Problem, ich würde aber empfehlen, vorher zu fragen, ob sich jemand davon irritiert fühlt. Haustiere streicheln? Die Katze auf dem Schoß ist okay, Fische füttern, hm, naja, den Laptop oder das Handy mit in den Garten nehmen, um mit dem Hund Stöckchen zu spielen, das geht zu weit.
Nebenbei telefonieren, nähen, zeichnen, sich umziehen, Gymnastik treiben: Wenn ich versuche, die Teilnehmer*innen eines Kurses für mein Thema zu begeistern, sind das klare Botschaften der Ablehnung (auch wenn es nicht so gemeint ist). Zu spät kommen oder während der Sitzung das Meeting verlassen oder früher gehen? Wie in jedem Seminar ist es ein Gebot des Respekts gegenüber allen anderen Teilnehmer*innen, sich für ein solches Verhalten zu entschuldigen (man sollte versuchen, das nicht zu tun und möglichst vorher auf’s Klo gegangen sein).

Unerwünschte Einblicke

Ganz gleich, ob und wenn ja, mit welchem Geschlecht Ihr Euch identifiziert: Kleider machen Leute. Gerade jetzt, wenn es wärmer wird, denkt daran, dass die Kameraoptik anders funktioniert, als das menschliche Auge. Offene Hemden, weite Ausschnitte, kurze Hosen: Wenn ich mich vor dem Endgerät bewege, mich nach vorne beuge, mich umdrehe, mich vom Tisch weg oder auf ihn zu bewege, kann das Bild sehr eigenartige Einblicke gewähren. Sowohl seltsame Körperausschnitte als auch Ecken der Wohnung und ihrer Bewohner*innen können auftauchen, was unter Umständen nachher für Euch selbst oder die Anderen unangenehm ist (achtet auch auf Spiegel und spiegelnde Oberflächen im Hintergrund. Sie lenken nicht nur das Chi, sondern auch die Blicke).
Im Unterschied zum echten Hörsaal sind online immer alle im Blick. So lange die Kamera eingeschaltet ist, seid Ihr sichtbar – und Ihr wisst nie, wer Euch gerade zuschaut. Ihr könnt an den Blicken der anderen nicht erkennen, ob sie Euch ansehen. Je mehr Leute an der Sitzung teilnehmen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand merkt, wie ich gerade in der Nase bohre oder mir genüsslich die haarige Plautze kraule.

Ironie im virtuellen Raum

Und dann gibt es da noch eine Besonderheit. Über die digitalen Medien vermitteln sich subtile Signale eher schlecht. Mikroausdrücke im Gesicht und der Körperhaltung sind oft nicht lesbar. Ob zum Beispiel eine Bemerkung ironisch oder ernst gemeint ist, kann viel leichter verwechselt werden, als beim physischen Kontakt. Im Zweifel lieber auf mehrdeutige Formulierungen oder launige Kalauer verzichten – die kann man im virtuellen Raum schnell in den falschen Hals bekommen. Missverständnisse entstehen leichter als beim persönlichen Kontakt.
Ich bin körperlich relativ hochgewachsen und bin es deshalb gewohnt, meine Gesprächspartner*innen aus einer leichten Vogelperspektive wahrzunehmen. Laptopkameras sind aber meistens so positioniert, dass die Gesichter mit leichter Untersicht aufgenommen werden. Mimik kommt bei mir also online ganz anders an als in Wirklichkeit – das fällt mir gerade und besonders bei Menschen auf, die ich gut kenne. Auch solche Verzerrungen der Welt sollten wir im Kopf haben, wenn wir uns in die virtuelle Realität von Big Blue Button, Skype oder Zoom begeben.

Vervielfältigung des Selbst

Diese Beobachtungen finde ich als Kulturwissenschaftler hochinteressant. Letztlich lerne ich dabei viel darüber, wer ich eigentlich bin und auf welchen Ebenen sich meine Existenz manifestiert. Ja, sicher: ich wohne in meinem Körper. Aber das bedeutet nicht, das ich zwangsläufig immer am gleichen Ort bin, wie mein Leib. Als Subjekt bin ich immer auch dort, wo diejenige Person ist, mit der ich gerade kommuniziere; zumindest ein bisschen.
In den Online-Kursen vervielfältigen wir uns alle für einen kurzen Zeitraum. Das erfordert neue soziale Praktiken. Diese Etikette – das ist nämlich eine festgelegte gesellschaftliche Verhaltensmaßregel – entwickeln und lernen wir momentan alle gemeinsam. Frei nach dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant könnte man sagen: Verhalten wir uns im virtuellen Seminarraum so, wie wir es in einer künftigen virtuellen Hausordnung niedergeschrieben finden wollen.

Artikel: ©Friedrich Weltzien | Illustration: ©Rosali Karré